Jung-Stilling präsentiert sich in seinen Lebensbeschreibungen als begnadeter schriftlicher Erzähler, anzunehmen ist, dass er dieses Talent auch in der mündlichen Wiedergabe von Geschichten zum Besten gab. „Des Mittags nach dem Essen sammlete Stilling einen Haufen Kinder um sich her, ging mit ihnen hinaus aufs Feld, oder an einen Bach, und dann erzählte er ihnen allerhand schöne empfindsame Historien, und wenn er sich ausgeleert hatte, so mußten andere erzählen.“ (Jünglingsjahre Kap. 2*).
Schon als Kind ist er sowohl mit Geschichten aus der mündlichen Tradition aufgewachsen als auch mit den antiken Mythen, die ebenfalls einen prägenden Eindruck auf ihn hinterlassen haben „Schwerlich ist die »Ilias«, seit der Zeit, daß sie in der Welt gewesen, mit mehrerem Entzücken und Empfindung gelesen worden. Hektor war sein Mann, Achill aber nicht, Agamemnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durchgehende mit den Trojanern, ob er gleich den Paris mit seiner Helenen kaum des Andenkens würdigte; besonders weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Ursache des Kriegs war. Das ist doch ein unerträglicher schlechter Kerl! dachte er oft bei sich selber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers waren so sehr nach seinem Geschmack, daß er sich nicht enthalten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein so recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemessen war; damals wär' die rechte Zeit gewesen, den Ossian zu lesen.“ (Jünglingsjahre Kap. 3) Während seiner Zeit als Schulmeister in Hilchenbach-Lützel („Zellberg“) hatte er die Gelegenheit, sich diesen Geschichten mit Leib und Seele widmen zu können. Er lies auch seine Schüler an seiner Begeisterung teilhaben, indem er das Erzählen als Vermittlungsmethode einführte und damit bei den Schülern gut ankam:
„Heinrich Stillings Schulmethode war seltsam, und so eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des Morgens, sobald die Kinder in die Schule kamen, und alle beisammen waren, so betete er mit ihnen, und katechisierte sie in den ersten Grundsätzen des Christentums, nach eigenem Gutdünken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stück lesen, wenn das vorbei war, so ermunterte er die Kinder den Katechismus zu lernen, indem er ihnen versprach schöne Historien zu erzählen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig können würden; während der Zeit schrieb er ihnen vor, was sie nachschreiben sollten, ließ sie noch einmal alle lesen, und denn kam's zum Erzählen, wobei vor und nach alles erschöpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiser Oktavianus, der schönen Magelone, und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstörung der königlichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf seiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es läßt sich nicht aussprechen mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur früh ans Erzählen zu kommen; waren sie aber mutwillig, oder nicht fleißig gewesen, so erzählte der Schulmeister nicht, sondern lasen selbsten“ (Jünglingsjahre Kap 4).
Offensichtlich war sich der Dorflehrer um die Wichtigkeit des Erzählens als kulturelle Technik für Bildung und Erziehung durchaus bewusst.
Jung-Stilling war bei den Kinder beliebt und die Eltern der Kinder waren offensichtlich ebenfalls rundum zufrieden mit Ihrem Dorflehrer. Nur dem Pastor war er ein Dorn im Auge und musste schlussendlich auf dessen Einwirken hin die Dorfschule verlassen. Stilling widmete sich eine Zeit lang wieder dem väterlichen Schneiderhandwerk, bis er dann kurz vor Weihnachten ein Stellenangebot nach Plettenberg („Dorlingen“) als Privatlehrer des reichen Unternehmers Stahlschmidt („Steifmann“) erhielt.